Nachruf auf Rainer Wincierz (1924–2025)
3. September 2024, 18 Uhr, Theaterplatz Dresden: Eine Limousine fährt vor, sie hält vor der Semperoper. Der rote Teppich wird ausgerollt. Auf das lange, weiße Auto richten sich die Augen derer, die sich am Frühabend auf dem Platz tummeln. Aus dem Lincoln Town Car steigen zunächst mehrere wohlgekleidete (junge) Frauen. Kurze Pause! Es dauert ein wenig, dann folgt „Opi Rainer“. Er wirkt zunächst ein klein wenig verblüfft, ist ein bisschen scheu, so viel Aufmerksamkeit ist ihm peinlich, aber schnell kehrt seine ihm eigene Souveränität zurück. Er lächelt und läuft über den roten Teppich. Die Überraschung ist gelungen!





Der Geburtstag unseres Altstars liegt wenige Tage zurück, am 24. August ist er runde 100 Jahre jung geworden. Jetzt freut er sich über den Besuch der Semperoper in Begleitung mehrerer attraktiver Damen, die ihn zu „Le nozze di Figaro“ eingeladen haben. Oper, das ist eines seiner vielen „Dinger“. Die Welt hat er dafür bereist, die kleinen und großen Stars der Szene gehört, verschiedene Inszenierungen gesehen, vielen Dirigenten beim Wedeln des Taktstocks zugeschaut, in vielen weichen und doch recht unterschiedlichen Sesseln der einzelnen Häuser gesessen: „Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien“. Mit Musik verbindet er viele Erinnerungen, vor allem die Erlebnisse mit seiner bereits 2010 verstorbenen Frau Ingeborg. Immer wieder hat er von guten und schlechten Stücken gesprochen, von Wagner, Donizetti oder Mozart. Die „Hochzeit des Figaro“ hat er noch nie genossen. Bevor es heute in die Vorstellung geht, gibt es ein kleines Buffet neben dem Eingang. Eine kurze Ansprache des Jubilars und dann wird in geselliger Runde gemeinsam angestoßen. „Prost Rainer!“
Der kleine Empfang weckt Begehrlichkeiten anderer Operngäste. Eine 85-Jährige läuft vorbei, freut sich und hält fest: „Sowas hätte ich auch gern!“ Es folgt eine kurze Erklärung der Szenerie und wir denken uns still, sie müsste zügig einen Volleyballverein in ihrer Nähe finden und wenn es dann genau so passt, wie zwischen unseren Volleyballfrauen und „Opi Rainer“, wer weiß, dann sitzt die noch viel zu junge Dame vielleicht in 15 Jahren an gleicher Stelle, umringt von sportlichen, gut gekleideten Männern, bei Sekt und Canapé.

Die Geschichte zwischen Rainer Wincierz und unserem Verein begann vor etwa der gleichen Zeitspanne. Nach dem Tod seiner Frau fand Rainer gemeinsam mit seinem Enkel Olli den Weg in die Halle, um Karina bei einem ihrer Spieltage zuzuschauen. Gedacht als kleine Ablenkung nach dem traurigen Anlass entwickelte sich zügig eine intensive Beziehung zwischen ihm und dem gesamten Frauenteam des damals noch als Boxdorfer VC agierenden Clubs. Denn es blieb nicht bei einem Besuch. Fortan kam er zu jedem, und das meint wirklich jedem Spiel der Frauen. Ohne Vorkenntnisse fing er an, sich in die Regeln des Sports einzuarbeiten, beschäftigte sich mit den Finessen des Volleyballspiels, hielt alles in seinem Notizbüchlein fest und freundete sich zügig mit den Teammitgliedern an.



Die Sache verstetigte sich. Reiste er am Anfang noch selbst organisiert mit Bus und Bahn an, änderte sich das Ende Februar 2013 schlagartig, nachdem seine Anfahrt nach Stolpen im mittlerweile legendären Schneegestöber länger dauerte als der Spieltag selbst. Die erste Fahrgemeinschaft war geboren, die Opi von nun an regelmäßig zu den Spieltagen hin und wieder zurückbrachte. Von da an war der Edelfan eigener Tagesordnungspunkt des Spielvorbereitungsprotokolls. Konnte er ausnahmsweise einmal nicht, meldete er sich höflich und wohl begründet bei den Verantwortlichen ab.
Nach und nach wuchs auch seine Ausstattung unter anderem mit eigener Trainingsjacke und eigenen Sitzkissen, sodass er vor jedem Spieltag gut damit beschäftigt war, seinen (Sport-)Rucksack inkl. Schuhe zu packen. Mit dabei im Gepäck: die obligatorische Packung „Merci“, die er den Frauen zur Stärkung reichte. War mal keine zur Hand, war Alarm angesagt. Im April 2017 vergaß er versehentlich die Packung zu Hause und so gab es – zähneknirschend von Opi – eine Ersatzdosis „Ferrero Küsschen“. Die besondere Beziehung zwischen Rainer und dem Frauenteam war es (aus unserer Sicht) Wert, einmal in einem der zahlreichen Merci-Werbespots, die ähnliche Geschichten vermittelten, erzählt zu werden. Unser augenscheinlich etwas falsch verstandener Brief an den Konzern führte zur Ablehnung und der Antwort: „Wir arbeiten nur mit Schauspielern.“ Tja, schade für das Unternehmen, was verpasst! Wir arbeiten nur mit Originalen!





Und Opi Rainer war ein ganz besonders Original. Stets interessiert am Gegenüber, aufmerksamer Gesprächspartner mit seinem erfahrenen Blick auf die Welt, offen für jedes Thema, ständig ein Lächeln auf den Lippen, niemals schlecht gelaunt, immer auf der Höhe der Zeit und mit dem ein oder anderen flotten Spruch eroberte er die Herzen aller. Selbst bei den gegnerischen Teams genoss er schnell Kultstatus. Vor einem Auswärtsspiel in Freital wurde er vom Hallensprecher als „Old Shatterhand“ empfangen; ein Name, der hängen blieb. Bezirksliga, Sachsenklasse, Sachsenliga; Rothenburg, Plauen, Zittau, Görlitz, Freital, Dresden, keine Halle war ihm zu klein, keine Halle zu groß und kein Weg zu weit. Die Beobachterposition am Spielfeld variierte je nach Hallenausstattung, vom Hocker in der Ecke bis auf die Spielerinnenbank, fast nie auf der Tribüne, das war ihm zu weit weg vom Geschehen. Und nahm es das Schiedsgericht einmal zu genau, stieg er zum Physiotherapeuten auf. Die Spiele begleitete er manchmal stoisch, manchmal impulsiv, manchmal konnte man am Gesichtsausdruck den Spielstand ablesen. Lief es nicht, zeigte er mit stiller Autorität Präsenz, munterte die Frauen auf und verhalf ihnen zu sportlichen Höchstleistungen und großen Siegen. Wenn es nicht klappte, spendete er Trost. Die Halle reichte ihm bald nicht mehr. Auch im Sommer war er bei den Beachsessions der Frauenmannschaft im Bad Sonnenland dabei und sorgte ab und an für regelrechte Herzinfarktmomente bei den Spielerinnen, wenn er wagemutig den Abhang hinunterstürmte, um die über die Fangnetze geflogenen Bälle aus dem angrenzenden Bach zu holen. Der freie Geist macht was er will.


Opi Rainer wurde zum treuesten und vermutlich ältesten Volleyballfan Sachsens. Sein Wissen um den Sport wuchs stetig. Er besuchte nicht nur die Spiele unseres Teams, sondern auch die von Olli begleiteten und geleiteten Bundesliga-Spiele als Schiedsrichter. Die dynamische digitale Entwicklung, für manche Menschen im fortgeschrittenen Alter ein Problem, ging er tatkräftig an und kommunizierte aktiv über die sozialen Kanäle mit den einzelnen Mannschaftsmitgliedern. Geburtstagswünsche waren selbstverständlich, letztlich wusste er am besten Bescheid, wer wann sein Jubiläum feierte. Ein Blick ins gut geführte Notizbuch genügte. Auch andere Ereignisse und Momente würdigte Opi Rainer, als WhatsApp-Nachricht oder Old school als förmliche Karte. Wochenendgrüße standen auf der Tagesordnung. Es war ja nicht jeden Samstag Spieltag. Leider!

Seine eigenen Geburtstage wiederum wurden zu wahren Festakten. In Kombination mit den jährlichen Trainingslagern war auch hier das sonntägliche Sekt-Frühstück mit Opi fester Bestandteil des Prozedere. Niemand wollte diese Partys verpassen, selbst Ex-Spielerinnen nahmen teil. Unprätentiös, bescheiden, aber mit sichtlichem Stolz nahm Opi Rainer die großen Brunche in der Bergwirtschaft am Wilden Mann hin. Auch hier sorgte die Kombination ‚Senior umringt von jungen Frauen‘ für Aufsehen. Unvergessen bleiben seine Ansprachen „Meine Damen …“ und der gemeinsame Chor „99 Jahre jung“ zu Nenas Hit. Emotional wurde es auch, wenn Teammitglieder ihre Geburtstagswünsche vorlasen. Ein spezieller Moment für ihn war die Ernennung zum Ehrenmitglied des Vereins 2014, die ihn offenkundig überraschte. Der Vorstand würdigte damit seine Unterstützung der Frauenmannschaft auf besondere Weise. In seiner ihm eigenen Art verstärkte er den ohnehin schon großen Zusammenhalt und war der personifizierte soziale Kit des Teams. Nicht als Offizieller, nicht als Vorstand, nicht als Trainer, nicht als Spieler, sondern als „einfacher“ Fan prägte Opi Rainer unsere Vereinskultur, war aktiver Teilnehmer am Vereinsleben und mit seiner Leidenschaft vor allem Inspiration und Vorbild. Zugleich war er unser bekanntestes Aushängeschild, was uns wiederum mit Stolz erfüllte.



Es soll nicht der Eindruck entstehen, Opi Rainer gehörte uns allein. Ganz im Gegenteil. Seine Enkelkinder Jenny und Olli mit Karina sowie seine drei Urenkelinnen waren sein ein und alles. Jenny war es, die ihn zuletzt als „Opi für Jedermann“ beschrieb. Mit seiner offenen und aufmerksamen Art fand er überall Bekanntschaften. Beispielsweise lernte er im Urlaub Leute kennen, zu denen er noch jahrelang engen Kontakt pflegte. Auch im Dresdner St.-Benno-Gymnasium engagierte er sich, war er doch der älteste noch lebende Bennone, der bis 1938 das alte Gymnasium auf der Wiener Straße besucht hatte. Er zählte zu den Menschen, denen die jüngere Generation gern zuhörte.
Opi Rainer, das war auch ein Jahrhundert deutscher Geschichte, ein Leben in vier unterschiedlichen politischen Systemen: Geboren in der Weimarer Republik, aufgewachsen im Nationalsozialismus, nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Eisenbahner, er erlebte die DDR, die politische Wende und das vereinte Deutschland. Mit kritischem Blick interessierte er sich für die Historie und kommentierte aktuelle Entwicklungen. Sein Wissensschatz glich einem Fass ohne Boden.

Dennoch ging das Alter nicht spurlos an seinem Körper vorbei. Sein Gang war sicherlich gebückt, seine Gedankengänge aber waren bis zum letzten Tag klar, sein Geist und sein Witz blieben ein Jungbrunnen. Dem Tod schlug er das ein oder andere Schnippchen. Er trotze so mancher ärztlichen Prognose. Als zum Jahresende aber die Nachricht vom schlechten Gesundheitszustand die Runde machte, brach die ganze Volleyballgemeinde auf, um selbst am Silvestertag ihren herzlieben Opi ein letztes Mal in Dresden-Leuben zu besuchen. Olli kam mit der Organisation der vielen Termine gar nicht mehr hinterher. Opis unbändiger, positiver Lebenswille sorgte dafür, dass es wieder ein klein wenig aufwärts ging und sich Familienangehörige, viele Freunde und Bekannte im neuen Jahr von ihm verabschieden konnten. Es waren zwar bedächtige, aber vor allem lustige Begegnungen. Am 8. Februar 2025 ist Rainer Wincierz friedlich eingeschlafen.

Die Volleyballfamilie hat eine wahre Lichtgestalt verloren, einen Mann mit einem kleinen Ego und einem großen Herzen, einen positiven Geist, der sich aus den schwierigsten Lebenssituationen befreite und immer nach vorn schaute. Unsere Geschichte ist nur ein kleiner Ausschnitt aus seinem Jahrhundert. Seine Biografie, sein Handeln stehen sinnbildlich für ein gesellschaftliches Miteinander mit Empathie und in gegenseitigem Respekt, an dem wir uns jederzeit orientieren. Wir werden ihn in ehrendem Gedächtnis behalten. Wie heißt es am Ende von Donizettis Oper „L’elisir d’amore“ treffend:
Prediletti dalle stelle, io vi lascio un gran tesoro. Tutto è in lui; salute e belle, allegria, fortuna ed oro. Rinverdite, rifiorite, impinguate ed arricchite: dell’amico Opi Rainer ei vi faccia ricordar.
[Von den Sternen begünstigt, hinterlasse ich dir einen großen Schatz. Alles ist in ihm: Gesundheit und Schönheit, Fröhlichkeit, Glück und Gold. Verjüngt, erblüht, befruchtet und bereichert euch: an unseren Freund soll er euch erinnern.]
Wir nehmen Abschied von Rainer Wincierz. Danke für alles. Merci!

Danke für den wunderbaren Text, für einen wundervollen Menschen.
Auch die Wildcats aus Reichenbach hatten noch das große Glück, den “EDEL-FAN” aus Dresden kennenzulernen. Ein wahrlich sehr sympatischer Mensch, der in seiner Art wirklich einzigartig war!
Es spricht wieder einmal für Euch, wie Ihr mit einem besonderen Nachruf einen besonderen Menschen verabschiedet.
Ein dickes, fettes, großes Lob an den Verein.
Liebe Grüße aus dem Vogtland.
Was für ein toller und herzerwärmender Text zu einem einzigartigen, großherzigen Menschen!
Leider war es mir nur einmal vergönnt Opi Rainer “in Aktion” in der Halle bei einem Spiel der Damen zu erleben, aber sehr gern habe ich immer die Spielberichte und Bilder verfolgt, in denen immer Platz für euren treusten Fan war.
Er wird fehlen! Euch alles Gute!
So ein toller Nachruf sehr schön geschrieben. So konnte jeder ein bißchen an der Geschichte teilhaben. Nach unserem Spiel an diesem Tag haben mich viele Spielerinnen nach ihm gefragt. Es ist so schön zu lesen, wie sinnvoll das Leben sein kann, auch für Menschen in höherem Alter. Vor allem, wenn sie wieder einen Sinn im Leben sehen und offen für neue Dinge sind. Toll wie ihr als Mannschaft ihn aufgenommen habt und ein Teammitglied werden konnte. Ich erinnere mich gern an die Begegnung mit ihm, wenn ihr in Zittau mit ihm ward oder wir bei euch in der Halle Opi Rainer mit seinem Kissen auf der Bank sitzen sahen. Seid lieb gegrüßt.
Ich bin tief berührt von diesen wunderbaren Worten. Vielen Dank an euch Shatterhands für diesen besonderen Nachruf – und vor allem dafür, dass ihr meinen Opa nicht nur als treuen Fan gesehen, sondern ihn mit offenen Armen in eure Gemeinschaft aufgenommen habt.
Ich bin unglaublich stolz, sein Enkel zu sein, und ich bin sehr dankbar, dass ihr eure Herzen so sehr für ihn geöffnet haben. Ihr habt ihm viel Freude geschenkt – danke dafür!